Von der Hitzeschlacht in die Schneeballschlacht

Das Finale der Charity Tour 2023 war eine echte Tortur. Nach einer solchen Etappe überwiegen die Glücksgefühle, es geschafft zu haben. Auf dem Weg hoch aufs Stilfser Joch erlebten die Rennradfahrer allerdings ganz andere Gefühle. Einmal drüber geschlafen, können wir förmlich spüren, wie bewegt und aufgewühlt jeder Einzelne immer noch ist. 

Wer nicht Rennrad fährt, kann sich nur annähernd vorstellen, wie es ist, einen Berg, wie das Stilfser Joch, hoch zu radeln. Wir haben uns deshalb von unserem Team die finale Etappe erklären lassen. Zunächst zur besseren Vorstellung ein Bild des verschneiten Passes:

Das Stilfser Joch (2.757m) in Südtirol ist der zweithöchste Straßenpass der Alpen (auch Passo Stelvio genannt) und wird als Königin der Passstraßen bezeichnet. Mit 48 Kehren und 1838 hm gilt dieser Pass in der Rennrad-Szene als "Tour der Superlative".  Die Kehren (Biegungen in  die Gegenrichtung) werden übrigens von oben nach unten gezählt und fordern von den Radfahrern eine richtig starke Kraftanstrengung. Die Kehren schrauben sich mit einer bis zu 15% Steigung nach oben. Bis zur Kehre 31 führt die Straße durch den Wald. Die Kehre 29 liegt knapp unter der Baumgrenze und öffnet den Blick auf den höchsten Berg der italienischen Alpen, den Ortler (3905 m). Ab der Kehre 24 ist der Blick frei und man sieht den weiteren Verlauf der Passstraße ein. 

Wer im Netz nach dem Stilfser Joch sucht, stößt auf zahlreiche Berichte und Videos von trainierten Rennradfahrern. Allen gemeinsam ist, dass sie die Passstraße als Herausforderung der ganz besonderen Art beschreiben. Die Bildwelt unterscheidet sich deutlich von der Schneelandschaft (Bild oben), der Hang ist grün und die Sonne scheint. Der Passo Stelvio hat übrigens einen eigenen Instragram-Kanal. Dort finden sich tolle Luftbildaufnahmen, welche die typische Optik des Passes im Sommer zeigen. Hier der Link zum Kanal: passostelvio_stilfserjoch

Auf der Temperaturachterbahn von + 46 °C runter auf - 2 °C 

Vor wenigen Tagen konnte man sich auf dem Stilfser Joch noch Sonnen, gestern waren eher Handschuhe und Mütze gefragt. Der Temperaturabfall auf -2 °C ist drastisch. Noch extremer ist der Temperaturunterschied für das Charity Team. Erinnert ihr euch noch an die Hitzeschlacht in den Cevennen? Dort kämpfte das Team mit + 46 °C. Jetzt landet das Team mitten im Winter.

Der Schnellste 

Caspar entscheidet sich für Geschwindigkeit. Die Kälte schmerzt ihn so sehr, dass er hofft, auf diese Art nicht zu unterkühlen. Schon früh macht er sich Vorwürfe, so nachlässig bei der Sockenwahl gewesen zu sein. Wie konnte er nur mit Sommersocken starten?!

Caspar weiß, dass er die treibende Kraft für diese Etappe war. Er war es, der sich für die Charity Tour, unbedingt das Stilfser Joch gewünscht hat. Damals hatte er den Gedanken im Kopf:

"Kann doch nicht so schlimm werden, Paul hat es doch auch geschafft." (Caspar Kühnle)

Oh doch! Es ist schlimm. Am besten einfach nur Treten, nicht nach oben auf die vielen Kehren schauen. Es ist dieser unbändige Wille, der ihn vorantreibt. Ungefähr ab Kehre 10 wird das Atmen durch die dünne Höhenluft schwerer.  Und dann diese tauben, eiskalten Füße und auch die Hände sind eingefroren, das Schalten wird immer schwerer. Beim zaghaften Blick nach oben erahnt er den Gipfel und der Endorphinspiegel steigt. Und dann hat er es tatsächlich in einer Top-Zeit geschafft und ihm wird klar:

"Ich bin da, ich bin ERSTER!"

Der Vermittler und Motor

Während der gesamten Charity Tour 2023 war Karsten wie ein Puffer zwischen Alt und Jung. Er vertritt als einziger die "mittlere" Generation und auch heute gilt sein Blick in beide Richtungen und er findet seine Position in der Mitte. Er weiß auf was er sich eingelassen hat, schließlich ist er diese Wahnsinns-Etappe schon einmal gefahren. Er erinnert sich an die Idealline beim Fahren einer Kehre und ärgert sich maßlos, über Auto- und Motorradfahrer, die ihm nicht nur das Durchfahren der Kehren erschweren, sondern schlimmer noch rücksichtslos abdrängen und Wasser und Schnee verspritzen. Die Klamotten werden nass und klamm. 

Irgendwie kämpft Karsten sich voran. Das fiese, erste Drittel ist geschafft. Der Wald liegt hinter ihm, der Blick nach oben ist frei. Das trübe Wetter, die Kälte und der Schnee lassen ihn sich fragen:

"Warum tue ich mir das an?" (Karsten Kühnle)

Karsten ist nicht allein, auch wenn er der Motor der Charity Tour ist und sich um so vieles kümmert, sind die anderen an seiner Seite. Heute sind es Klaus, Hartmut und Paul, die ihn mit Energieriegeln und Zuspruch versorgen. Und irgendwie zieht auch Caspar seinen Vater nach oben. Es wartet nicht nur der Gipfel, sondern auch sein Sohn auf ihn und dann kommt sie, die unbändige Freude. Jetzt einfach nur genießen!

Der junge Alte

Der neue im Team ist ein Kämpfer. Helmut kommt vom "Flachland" und ist noch nie einen Alpenpass geradelt. Er lässt sich von den Erzählungen nicht abschrecken. Die Anfahrt zum Pass ist sehr windig und steigt bereits steil an. Helmut fragt sich, wann kommen denn die Kehren?

Und sie kommen: eine nach der anderen 48, 47, 46, oh weh! Endlich Kehre Nr. 30, Es ist so hart und kräftezehrend. Helmut braucht zwischendurch ein paar Verschnaufpausen. Mal ein Energiegel, mal der gute Zuspruch und reichlich Willenskraft.

Irgendwann kommt Kehre 12, jetzt ist es nur noch ein Viertel. Endlich die letzten 5, die letzten 3, es zieht sich, Meter für Meter, Helmut gibt Gas.

"Und dann bist du oben. Ein Erfolgserlebnis, dass kann man nicht beschreiben. Wir haben es gepackt, das ist der Hammer." (Helmut Steinau)

Der Weise

Zum 5-mal macht Werner sich auf den Weg rauf aufs Stilfser Joch. Überhaupt hat er in seinem Leben schon so viele Touren gefahren. Er ist auch heute perfekt vorbereitet. Die Wahl der Kleidung erinnert nicht nur an seine vergangenen Fahrten auf den Stelvio, sondern ist nach dem Zwiebelprinzip optimal für diese Wetterlage. 

In der Ruhe liegt die Kraft und Werner bleibt ruhig. Er kennt die Strecke gut und macht sich nichts vor, bei diesem Wetter ist das auch für ihn eine echte Herausforderung. Er geht es langsam an, teilt seine Kräfte ein und erinnert sich an das Zitat aus seinem Tourbuch:

"Mein stärkster Muskel ist mein Wille" Werner Kühnle

Selbstbeherrscht findet er seinen Rhythmus und fährt, Kehre für Kehre, immer weiter. Ganz tief durchatmen. Pausen machen und von Klaus versorgen lassen. Und wieder weiter. In Bewegung bleiben und etwas bewegen. Er denkt an die gute Sache, an Kenia, das Land, in dem er vor vielen Jahren seinen ersten ehrenamtlichen Dienst leistete und tritt weiter in die Pedale.  

 Oben wird Werner von allen erwartet und bejubelt. Was für ein Tourcaptain, was für ein Vater und was für ein cooler Opa.

Der Jüngste

Mit 14 Jahren das Stilfser Joch zu meistern ist eine enorme Herausforderung, das Ganze dann auch noch bei übelsten Wetterbedingungen - ist eine einzige krasse Challenge. Während Werner unendlich viel Lebens- und Tourerfahrung hat, macht Konstantin zum ersten mal in seiner kurzen Rennradfahrer-Karriere eine Grenzerfahrung.

Konstantin ist ehrgeizig, nutzt den Windschatten von seinem Opa und zieht die ersten 10 Kehren souverän durch. 

Irgendwann zieht ihm die Kälte in den Körper. Sein Nacken ist hart wie Beton. Und dann die ungewohnte Höhenluft: Er quält sich weitere 5 Kehren nach oben und dann kommen die nächsten 3... Er trifft eine unglaublich schwere und mutige Entscheidung: Nach Kehre 30 ist für ihn Schluss. 

Als sein Bruder Casper später oben auf dem Gipfel davon erfährt, sagt er voller Überzeugung:

"Konsti hat das Zeug dazu, seine Muskelkraft ist enorm, den mentalen Kampf gewinnt er beim nächsten mal auch. Ganz ehrlich vor zwei Jahren hätte ich das auch noch nicht geschafft." (Caspar Kühnle)

Konstantin ist glücklich dabei zu sein und er trifft heute noch eine schwere und mutige Entscheidung:

"Ich greife wieder an!" (Konstantin Kühnle)

Der Motivator

Beim Anblick der sich hochquälenden Mannschaft werden bei Paul Erinnerungen an seinen eigenen schmerzhaften Weg zur Passhöhe in 2019 wach. Das Wetter war deutlich besser und doch war es eine Qual. Er fühlt mit der Mannschaft und will sie motivieren nicht aufzugeben. 

Bereits im Tal beginnt Paul die Tour in Fotos und Videos festzuhalten, und bringt auch die Drohne in die Luft. Und dann geschieht das Unfassbare: Eine starke Windböe ergreift die Drohne und als wäre ein Absturz nicht genug, fällt sie mitten in einen Fluss und wird von den Wassermassen innerhalb von Sekunden weggerissen. Wieviel Pech kann ein Mensch nur haben, erst das Touraus und jetzt der Verlust - der ausgeliehenen - Drohne.

"Die Charity Tour 2023 war ganz schön verkorkst und trotzdem ist es für mich total schön und spannend wieder dabei zu sein." (Paul Kühnle)

Der Ruhige

Klaus ist immer da, wenn er gebraucht wird. Und doch ist er kaum zu sehen. Auch heute ist er der erste am Set. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe aus und überträgt diese aufs Team. Er selbst bleibt immer im Hintergrund, sieht seine Rolle als nicht so bedeutend an. Dass er sich da sehr täuscht, bestätigt während der Grenzetappe jeder einzelne im Team.

Heute heftet Klaus sich mit dem Tourvan dicht an die Fersen der Radfahrer. Als langjähriger Freund hat er Werner schon bei unzähligen Rennradtouren begleitet. Solche Sorgen wie heute, hat er sich noch nie gemacht. Klaus ist selber 73 Jahre alt und obwohl Werner und Helmut trainierte Sportler sind, möchte er heute unbedingt in ihrer Nähe sein. Natürlich gilt seine Fürsorge auch den jüngeren Fahrern, deshalb ist er dankbar für die Unterstützung von Freund Hartmut, der spontan mit dem Motorrad gekommen ist, um die Versorgung aller am Pass, zu jeder Zeit und an jeder Stelle, sicherzustellen. 

"Heute war ich nicht wirklich ruhig sondern besorgt. Der Ausblick vom Stilfser Joch ist atemberaubend. Dort oben habe ich zum Glück auch meine Ruhe wieder gefunden." (Klaus Müller)

Jeder ist ein Gewinner

Das alles erst mal zu verarbeiten und sacken zu lassen, wird wohl noch ein paar Tage dauern. Diese letzte Etappe zeigt so eindringlich, welche unglaubliche Kraft in einem Team steckt. Das Charity Team 2023 hat sich neu zusammengefunden und jeder einzelne hat eine ganz wichtige Rolle eingenommen und dafür gesorgt, dass es am Ende für alle ein Erfolg wird. Jungs und Männer, diese Trophäe verdient ihr zu recht! 

Gerlinde Müller